Quantcast
Channel: HAMBURG BALLETT – JOHN NEUMEIER
Viewing all articles
Browse latest Browse all 157

Eine Ballett-Werkstatt in Baden-Baden

$
0
0

John Neumeier über »Das Lied von der Erde« und »Nijinsky«

Von Nathalia Schmidt

John Neumeier und Alexandre RiabkoJohn Neumeier und Alexandre Riabko © Kiran West

Die Tänzer erscheinen in Trainingskleidung, das Bühnenbild ist nur angedeutet, John Neumeier moderiert: Es ist wieder Ballett-Werkstatt! Dieses Mal findet die beliebte Veranstaltung nicht in Hamburg, sondern in Baden-Baden statt. »Es ist immer wieder eine Freude nach Baden-Baden zu kommen«. Mit diesen Worten begrüßt John Neumeier das Publikum. Trotz Regen sind viele an diesem Sonntagmorgen ins Festspielhaus gekommen und wollen etwas über die beiden Produktionen erfahren, die das Hamburg Ballett während des zweiwöchigen Gastspiels in Baden-Baden zeigen wird: »Das Lied von der Erde« und »Nijinsky«.

Pünktlich um 11 Uhr morgens geht es los. John Neumeier betritt die Bühne und beginnt mit einigen persönlichen Gedanken zum Ballett »Das Lied von der Erde«. Wenn er über die Musik spricht, kommt er ins Schwärmen: »Es ist ein geniales Werk von Gustav Mahler!«. Seine Auseinandersetzung mit der Musik des österreichischen Komponisten geht schon viele Jahre zurück. Noch als junger Tänzer am Stuttgart Ballett hat John Neumeier in der Kreation von Kenneth McMillans »Das Lied von der Erde« getanzt. Er war beeindruckt und inspiriert von seinem neuartigen choreografischen Stil, aber auch von der Schönheit der Musik und der Texte. Die Entstehung seines eigenen Balletts zur Musik von Mahler ist letztendlich einem äußeren Impuls zu verdanken: »Es war Brigitte Levèfre, die damalige künstlerische Leiterin des Balletts der Pariser Oper, die sich für ihren Abschied eine neue Kreation von mir gewünscht hat«, erklärt er dem Publikum. »Der Moment war so besonders, dass ich darauf einging. 50 Jahre später nach Kenneth McMillans Fassung war es mir auch möglich dieses Werk neu zu kreieren. Das war im Februar 2015; ein Jahr später, im Dezember 2016, wurde mein Ballett auch in Hamburg mit meinen Tänzerinnen und Tänzern gezeigt«, erzählt er weiter.

Bereits 15 Ballette zu Musik von Gustav Mahler hat John Neumeier geschaffen, seine erste Choreografie war »Rondo«, entstanden 1971. Kurz darauf folgte der vierte Satz aus der »Dritten Sinfonie von Gustav Mahler«, später vertanzte er die gesamte Sinfonie. Hierfür suchte John Neumeier nach einer neuen Form des abendfüllendes Balletts: ein Ballett, das ohne dramatische Handlung auskommt. Sein Vorhaben stoß damals noch auf Gegenstimmen, doch er hat sich durchgesetzt: Heute zählt sein sinfonisches Ballett »Dritte Sinfonie von Gustav Mahler« zu einem seiner erfolgreichsten, in rund 60 Städten weltweit wurde es getanzt, zweimal auch im Festspielhaus Baden-Baden. »Das musikalische Werk ›Das Lied von der Erde‹ hat eine ganz ähnliche Struktur wie die Dritte Sinfonie«, sagt John Neumeier.  »Der Einstieg ist sehr energisch und voller Dynamik, am Ende erklingt ein sehr lyrischer Satz«. Damit auch das Publikum versteht, was gemeint ist, folgen tänzerische und musikalische Beispiele.

Ein musikalisch inspiriertes Werk wie »Das Lied von der Erde« entsteht nach einer ersten Vorbereitungsphase. John Neumeier hat sich intensiv mit der Musik, dem Komponisten, der Zeit und den Umständen, in der diese entstanden ist, auseinandergesetzt. Weil es hier aber nicht um Handlung geht, sondern um die Stimmung, lässt sein Ballett zu »Das Lied von der Erde« eine gewisse Interpretationsfreiheit. Jeder Zuschauer kann seine eigene Geschichte darin sehen.

Deswegen gibt John Neumeier in dieser Matinee nur ein paar Sehhilfen zu »Das Lied von der Erde«. Er zeigt uns einige Ausschnitte aus seinem Ballett, wundervoll getanzt von unseren Tänzerinnen und Tänzern. Dabei stechen vier Tänzer heraus: Alexandr Trusch und Alexandre Riabko sowie Xue Lin und Lucia Ríos. Aber wer sind und was verkörpern sie? 

Gustav Mahlers Werk ist ein »Ich-Werk«, ein sehr persönliches Werk. Er komponierte das Werk in einer Zeit privater Schicksalsschläge. Im Jahr 1907 starb Mahlers Tochter an Diphterie, außerdem hatte er nach einer wohl antisemitisch motivierten Pressekampagne sein Amt als Direktor der Wiener Hofoper aufgeben müssen. Ihm selbst wurde eine schwere Herzkrankheit diagnostiziert, die wenige Jahre später zu seinem Tod führte. In dieser Zeit schenkte ein Freund ihm ein Buch: Hans Bethges Sammlung »Die Chinesische Flöte« mit Nachdichtungen altchinesischer Lyrik. Mahler begann kurz darauf mit der Komposition, insgesamt sieben Gedichte aus der Sammlung hat er vertont. John Neumeier erwähnt ein wichtiges Detail: »Gustav Mahler hat an vielen Stellen in den ursprünglichen Text eingegriffen, hat Worte, sogar ganze Textzeilen verändert oder hinzugefügt. Er begann mit der Vertonung des zweiten Gedichtes. Im Original war der Titel des Gedichts »Die Einsame im Herbst«, Gustav Mahler nannte das zweite Lied jedoch: »Der Einsame im Herbst«. Mahlers Werk spiegelt laut John Neumeier seinen Zustand wider. Oder wie der Dirigent Bruno Walter einmal sagte: »Jede Note dieses Werkes steht für Mahler selbst«.

Der erste Mann im Stück, übrigens durchgehend auf der Bühne präsent, könnte also Gustav Mahler selbst sein. Er begegnet auf seinem Weg zwei Frauen, eine mysteriöse und eine tröstende Frau sowie einen zweiten Mann, vielleicht ein Freund oder sein Alter Ego. Die mysteriöse Frau könnte für die Natur stehen, so John Neumeier: »Gustav Mahler hat die Natur geliebt, die langen Spaziergänge. Nach seiner Diagnose rieten ihm die Ärzte davon ab, lange Ausflüge in der Natur zu machen, um sein krankes Herz nicht weiter zu belasten. Die Natur spielt sowohl in den chinesischen Gedichten als auch in Gustav Mahlers Musik eine zentrale Rolle, sie inspirierte Mahler zu dieser wundervollen Musik, insofern musste das Element Natur auch in meiner Choreografie vorkommen. Die Frau könnte aber ebenso für die Ewigkeit stehen als auch für die Seele. Die andere Frau, die Tröstende, bringt dem ersten Mann eine Tasse Tee, es ist etwas sehr Konkretes und Menschliches. In einem melancholischen Moment spendet sie ihm Trost, ist für ihn da«. John Neumeier bleibt bewusst unklar; es ist wichtig zu verstehen, dass die Figuren keine konkreten Rollennamen haben, die Zuschauer sollen ihre eigenen Assoziationen dazu haben.

John Neumeier betont immer wieder, dass es ihm darum geht die Stimmung, die Emotion, welche die Musik transportiert, in Bewegung umzusetzen. Dies geschieht sehr oft intuitiv, wie er im Folgenden anhand seines Balletts »Nijinsky« zeigt.

Wir sehen einen Ausschnitt aus dem Beginn des zweiten Aktes. Bei der Kreation hatte John Neumeier noch keine konkrete Vorstellung davon, wie die folgende Szene aussehen soll oder wer die vielen Figuren, die wir gleich auf der Bühne sehen werden, sind. Es ging zunächst darum Bewegungen zu kreieren, die etwas mit der Welt Nijinskys – Tänzer und Choreograf im 20. Jahrhundert – zu tun haben. Während John Neumeier spricht, beginnen die Tänzer zu tanzen. Das Publikum schaut gespannt auf die Bewegungen jedes Einzelnen, hört dabei gleichzeitig den Worten des Choreografen zu. Aus der Gruppe sticht plötzlich ein Tänzer hervor, Aleix Martínez; er bricht quasi aus der Gruppe heraus, protestiert, »zappelt« mit seinen Händen (ein choreografisches Zitat aus Michel Fokines »Petruschka«). Nach und nach wurde John Neumeier bei der Kreation des Werkes klar, dass diese Figur Stanislaw sein muss, Nijinskys Bruder, der ebenfalls geisteskrank war.

Das Ballett »Nijinsky« hat eine Fülle an realen Bezügen: Realität und Wahnsinn gehen ineinander über; die Erinnerungen Nijinskys gewinnen Überhand, immer wieder tauchen Figuren und Rollen auf, die er kreiert hat, seine Familie, sein Mentor oder auch seine Frau Romola. »Es ist quasi unmöglich in einer Ballett-Werkstatt alles über Vaslaw Nijinsky zu erzählen«, sagt John Neumeier. »Das würde den zeitlichen Rahmen dieser Ballett-Werkstatt sprengen. Vielmehr müssten wir daraus ein ganzes Seminar machen«, scherzt er. Neben mir höre ich eine Dame sagen: »Von mir aus kann er die ganze Zeit weiterreden...« Das Publikum ist begeistert, und das nicht nur heute!

Schlussapplaus© Kiran West

Gestern feierte John Neumeiers Choreografie zu »Das Lied von der Erde« Premiere in Baden-Baden. Musikalisch begleitet wurde das Ballett von den beiden Gesangssolisten Klaus Florian Vogt (Tenor) und Benjamin Appl (Bariton) sowie der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken Kaiserslautern unter der Leitung von Simon Hewett. »Ein zauberhafter Abend«, so eine Zuschauerin im Anschluss an die Vorstellung. John Neumeiers Choreografie hat in Baden-Baden Ballettbegeisterung entfacht und wird sie mit der zweiten Aufführung heute Abend sowie zwei »Nijinsky«-Vorstellungen am kommenden Wochenende, sicher weiter schüren!

Gastspiel des Hamburg Ballett in Baden-Baden
Festspielhaus
»Das Lied von der Erde«, 8. Oktober, 18.00 Uhr 
»Nijinsky«, 13. Oktober, um 19.00 Uhr, 14. Oktober, um 18.00 Uhr, 15. Oktober, um 17.00 Uhr 

 


Viewing all articles
Browse latest Browse all 157