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Channel: HAMBURG BALLETT – JOHN NEUMEIER
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Ballett-Tester II

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Nijinsky IAlexandre Riabko und Ensemble in »Nijinsky« © Kiran West 

Zum allerersten Mal haben wir im Vorfelde unserer »Nijinsky«-Wiederaufnahme drei junge Ballett-Testerinnen eingeladen. Sie durften John Neumeiers Ballett vor allen anderen bereits bei der Hauptprobe erleben. Wir freuen uns sehr, dass Wiebke Bernard, Julia Sabrowsky und Dörte Wittenberg ihre facettenreichen Eindrücke und Erlebnisse mit uns teilen:

Am letzten Donnerstag hatte ich die Möglichkeit, mir gemeinsam mit zwei anderen Ballett-Testern die Hauptprobe von »Nijinsky« anzusehen. Das Ballett von John Neumeier, das im Jahr 2000 uraufgeführt und in dieser Spielzeit wiederaufgenommen wurde, handelt von dem weltberühmten Tänzer Vaslav Nijinsky, dessen Leben anhand seines letzten öffentlichen Auftritts rekapituliert wird.

Im ersten Teil stehen dabei seine berühmtesten Rollen im Vordergrund. Die charakteristischen Bewegungen Nijinskys, wie man sie aus »L'après-midi d'un Faune« oder »Le spectre de la Rose« kennt, werden hier von Neumeier und seinen Tänzern in ihrer eigenen Bewegungssprache mit Bravour dargestellt, sodass das Zuschauen wie gewohnt einfach sehr viel Spaß macht.

Besonders beeindruckend war für mich aber der zweite Teil, Nijinskys Abdriften in den Wahnsinn. Für Nijinsky war es nicht er selbst, der wahnsinnig wurde, sondern die Welt, die ihn umgab. Genau das drückt John Neumeier in diesem emotionsgeladenen Part aus, indem sowohl Musik als auch Kulisse und Tanz immer wilder und ungezügelter werden. Der Wahnsinn steigert sich kontinuierlich bis hin zur pompösen Schlussszene, in der alles zusammentrifft. Das aufwendige Bühnenbild, die vielen, ganz unterschiedlich kostümierten Tänzer und vor allem Nijinsky, der auf einem Schlitten von seiner Frau auf die Bühne gezogen wird und selbst in seinem Wahnsinn immer noch ein Genie des Tanzes bleibt - spätestens dann kann man sich als Zuschauer kaum gegen die Gänsehaut wehren, die einen zwangsläufig überkommt.

Aufgrund dieser extremen Emotionalität und der vielfältigen, niemals langweiligen Szenen ist das Ballett auf jeden Fall ungemein sehenswert, selbst wenn man nicht mit Nijinskys Biografie vertraut ist und daher vielleicht nicht jede Anspielung verstehen mag. Für John Neumeier ist sein Ballett schließlich auch keine Dokumentation, sondern vielmehr die »Biografie einer Seele«, die er den Zuschauern intuitiv und emotional zugänglich macht.

Wiebke Bernard

Nijinsky IIAlexandre Riabko als Nijinsky, Hélène Bouchet als Romola und Karen Azatyan als Faun © Kiran West

Weil ich ein abenteuerlustiger Mensch bin, gucke ich mir gerne die erste Hälfte eines Ballettes an, ohne vorher einen Blick ins Programmheft zu werfen. Ich mache das, um zu gucken, ob ich das Ballett auch so verstehen würde und um unvoreingenommen zu sein. Ich freue mich, wenn ich selbst etwas entdecke oder die Symbolik ohne Hilfe entschlüsseln kann. In der Pause lese ich dann die Synopsis und klopfe mir selbst auf die Schulter, wenn ich etwas richtig interpretiert habe. Meistens klappt das ganz gut, besonders bei narrativen Stücken. »Nijinsky« ist nicht so ein Stück. Es ist keine Geschichte, die bei A anfängt und über B, C und so weiter fein säuberlich bei Z endet. Es ist kein Handlungsballett und es ist bestimmt nichts für Liebhaber von ausschließlich klassischen Stücken. Es ist ein Stück über einen Menschen und dennoch nicht seine Biografie.

Natürlich hat Neumeier daran auch nie einen Anspruch gestellt, aber das bekam ich erst in der Pause raus, als ich dann doch mal das Programm las. Und in diesem Fall würde ich das vorherige Lesen definitiv empfehlen. Besonders, wenn man nur ein oberflächliches Wissen zu Nijinsky hat. Zu groß ist die Gefahr, dass man in den Wirbel von Farben, Emotionen und tiefer Symbolik eingesogen, durchgekaut und am anderen Ende verwirrt und etwas frustriert wieder ausgespuckt wird. Zu groß auch die Gefahr, dass man die ikonischen Figuren und Choreografien, die Nijinsky erschuf und Neumeier zitiert, unerkannt an einem vorbeiziehen lässt. Und man sich am Ende nur fragt, wer alle diese Leute sind, und was sie miteinander zu tun haben. Der Schlüssel zu »Nijinsky« ist Nijinsky. Ich glaube, das Stück bietet ein befriedigenderes und nachhaltigeres Erlebnis, wenn man zumindest grob seine Biografie (der deutsche Wikipedia-Artikel ist ausreichend detailliert) und seine berühmtesten Rollen kennt. Dann gibt es viel zu entdecken, zu bewundern und mitzufühlen. Dann wird man eingesogen, in ein traumartiges Stück, in dem die Welten von Nijinskys Stücken, die Stationen seines Lebens und seine innere Welt sich berühren, überlappen und nahtlos ineinander übergehen. Und dann kann man das auch genießen.

Julia Sabrowsky

Nijinsky IIIPatricia Friza und das Ensemble des Hamburg Ballett in »Nijinsky« © Kiran West

Zwei Dinge ahnt man bereits in der ersten Szene, wenn Alexandre Riabko als Nijinsky - das jubelnde Publikum missachtend – wie eine Diva zu seiner letzten Performance auf die Bühne gleitet und seinen eigenwilligen Tanz beginnt:

1. Hier geht es nicht nur um die tänzerischen Erfolge von Vaslav Nijinsky, sondern auch um sein Innenleben.
2. Beides war das Gegenteil von »langweilig«.

Im ersten Part von »Nijinsky« liegt der Fokus auf der Realwelt des Tänzers. Auszüge aus seinen größten Bühnenerfolgen werden von unterschiedlichen Darstellern vorgetragen. Ein verzückt tanzender Sklave der Scheherezade, ein ephebischer Harlekin oder ein am Fächer lutschender Faun mit seinen charakteristischen Seitwärtsbewegungen im Profil – jede Rolle ist durch einen so intensiven und eigenen Tanzstil verkörpert, dass man sich heute noch vorstellen kann, welch Furore zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch ihn ausgelöst wurde.

Ein weiterer Schwerpunkt ist das Verhältnis von Nijinsky zu Mentor und Liebhaber Serge Diaghilew, das sich in wunderschönen und spannungsreichen Pas de deuxs (Alexandre Riabko / Ivan Urban) spiegelt. Teilweise begleitet von Hélène Bouchet als Nijinskys Frau, die – wie wahrscheinlich im echten Leben – eher distanziert mit Nijinsky interagiert und fast wie ein Störfaktor zwischen den beiden Liebhabern wirkt. Ausnahme bildet hier das »Pas de deux« des Ehepaars im Moment ihres Kennenlernens, das im Kontrast zur Gesamtstimmung einen unbeschwerten und ungewöhnlich leichten Eindruck hervorruft.

Im zweiten Akt tragen die unheilvoll anschwellenden Töne von Schostakowitschs 11. Symphonie den Zuschauer in das Innenleben des Tänzers, das zunehmend von seiner Schizophrenie geprägt ist.

Ein passiver Nijinsky beobachtet Eindrücke aus seinem eigenen Leben – Tanzszenen vergangener Bühnenerfolge, flankiert von einem Ensemble, das in einer komplexen Choreographie das Umfeld von Nervenheilanstalten und Krankenhäusern erahnen lässt.

Einer der Höhepunkte des zweiten Aktes zeigt Nijinsky als Petruschka; anklagend und hilfesuchend dem Publikum die Arme entgegenstreckend, – während das Orchester gewehrähnliche Töne anschwellen lässt zu denen ein Ensemble in Soldatenkleidung sowie eine kämpferisch wirkende Patricia Friza (Nijinskys Schwester Bronislava) in einer intensiven Choreographie den Krieg zum Leben erwecken.

Das Stück findet in einem dynamischen Bühnenumbau dann wieder zurück zu seinem Ausgang: Nijinsky, noch von Kriegserinnerungen gezeichnet, bei seinem letzten Auftritt.

FAZIT: Hier scheint jemand Nijinsky verstanden zu haben. Musik, Choreographie und grandiose Tänzer ziehen einen geradezu in das (Innen-)leben des Tänzers hinein.

Viel Bildmaterial gibt es von dem Jahrhunderttänzer nicht mehr – wer ihm trotzdem etwas näherkommen will, sollte sich schnell Karten kaufen.

Dörte Wittenberg

 

»Nijinsky« Ballett von John Neumeier
Vorstellungen am 30. September 2016, um 19.30 Uhr, am 2. Oktober 2016 und 25. Mai 2017, jeweils um 18.00 Uhr sowie am 27., 30., 31. Mai und am 6. Juli 2017, jeweils um 19.30 Uhr


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